„In Auschwitz gab es keine Vögel“
OBERURSEL – Musikalische Lesung erinnert an Pogromnacht und ihre Folgen – Grausame Wahrheit der Geschichte warntDie Stille ist zum Greifen und erfüllt den Rathaus-Sitzungssaal. Nicht, dass sich die Stadtparlamentarier nichts mehr zu sagen hätten. Ein Moment des Innehaltens wäre in erhitzten Debatten manchmal vielleicht hilfreich.
Nein, die Stille, die sich – ausgehend von der Bühne – auf die Besucher der Gedenkfeier zur Reichspogromnacht legt, hat eine andere Qualität und Wirkung. Reg- und tonlos stehen die Autorin Monika Held und der Kontrabassist Gregor Praml auf der Bühne und machen – nichts.
Treffender und spürbarer kann diese Stille zum Auftakt der Konzertlesung, zu der die Initiative Opferdenkmal in Zusammenarbeit mit dem Kultur- und Sportförderverein Oberursel, der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Hochtaunus, dem Kunstgriff und dem Kulturkreis Oberursel eingeladen hat, nicht sein.
Es ist keine gewöhnliche Gedenkminute. Es ist nicht die erbetene Stille zum Totengedenken einer Jahreshauptversammlung. Diese minutenlange Stille ist länger, als man sie beim Besuch einer Kulturveranstaltung erwartet hätte. Wie eingefroren stehen Monika Held und Gregor Praml da und schweigen einfach.
Wie lange mögen im Vergleich dazu die 792 Tage des Grauens gewesen sein, die der KZ-Häftling Heiner im Konzentrationslager Auschwitz er- und überlebte. „In Auschwitz gab es keine Vögel“, sagt aus dem Off eine Stimme und beendet endlich diese irritierende Stille.
Wie grausam die Stille in Auschwitz und dem Außenlager Birkenau gewesen sein mag, ist für die Besucher nach der gut einstündigen Konzertlesung ansatzweise zu ahnen. Eine Stille, die regelmäßig von dem Schreien der Menschen in ihren Todeskämpfen, aber auch durch die Schreie des Wahnsinns und andere entsetzliche Geräusche der Todesmaschine durchbrochen wurden. „Bald wird es keine Überlebenden des Holocaust mehr geben – und wer erzählt dann?“, fragen sich Monika Held und Gregor Praml und werden selbst zu Erzählenden. Held liest aus ihrem Roman „Der Schrecken verliert sich vor Ort“. Die nüchtern, aber detailreich beschriebene Geschichte des KZ-Häftlings wird immer wieder unterbrochen von der einer facettenreichen Geräuschkulisse, die Praml seinem Kontrabass entlockt. Die überraschende Klangfülle untermalt die geschilderte Schreckenskulisse des KZ-Alltags.
Originalton eines Überlebenden
Immer wieder wird auch die Originalstimme des Auschwitz-Überlebenden Hermann Reineck eingespielt, der beim Frankfurter Auschwitz-Prozess über seine Leidenszeit von 792 Tagen aussagte. Seine Schilderungen sind die Grundlage des Romans von Monika Held.
Mit einer, angesichts des erlebten Grauens irritierend nüchternen Sachlichkeit, zugleich aber mit charakterstarker Stimme, gibt der Überlebende einen Einblick in die Entsetzlichkeit menschlicher Taten, die eigentlich undenkbar sind. „Gefährlich ist nicht der Sadist“, liest Monika Held eine zentrale Stelle. „Gefährlich ist der ganz normale Mensch.“ Hermann Reineck hat bereits am 5. Juni 1964 beim Auschwitz-Prozess eine Einschätzung gegeben, die heute gefährliche Realität geworden sei, so Monika Held. „,Passt auf, es gibt wieder Neonazis‘, sagte Reineck vor fast 60 Jahren während seines Verhörs und wurde dafür ausgelacht“, stellt Monika Held fest.
Anschließend zitiert sie mit beunruhigender Eindringlichkeit Aussagen von AfD-Politikern. Die menschenverachtenden Worte, mit denen diese den Holocaust nicht nur verharmlosen, sondern auch als Lösung in der Flüchtlingsfrage anführen, lassen die Besucher fassungslos zurück.
Matthias Pieren
„Oberursel ist wegen seines Gedenkens gesegnet“, ließ der Frankfurter Rabbiner Andrew Aryeh Steiman seine Gruß- und Dankesworte über Tibi Aldema von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit dem Oberurseler Verein Initiative Opferdenkmal ausrichten.
Nach der Konzertlesung zogen die Besucher gemeinsam mit brennenden Kerzen zum Opferdenkmal. Dort sprach Tibi Aldema abschließend das jüdische Gebet El Male Rahamim zum Gedenken an die mehr als sechs Millionen Juden und die vielen anderen Opfer, die während der nationalsozialistischen Herrschaft ermordet wurden.
Annette Andernacht dankte als Vorsitzende der Initiative Opferdenkmal dem anwesenden Altbürgermeister Hans-Georg Brum (SPD) ebenso für seine Unterstützung, wie seiner Nachfolgerin Antje Runge (SPD). „Der 9. November 1938 war der Tag, an dem auch in Oberursel jüdische Mitbürger vor den Augen ihrer Nachbarn durch die Straßen gejagt wurden“, erinnerte Runge an das dramatische Geschehen vor nunmehr 83 Jahren. „Das war damals. Aber auch heute wird die grenzenlos vereinfachte Weltsicht und die Menschenverachtung rechter Gesinnung wieder unverhohlen geäußert. Die abscheuliche Wahrheit deutscher Geschichte warnt uns davor.“ map
Quellenangabe: Taunus Zeitung vom 11.11.2021, Seite 11
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