Vor 70 Jahren
Über Frankfurt nach Kowno
Von Angelika Rieber
Anlässlich des 70. Jahrestages der Deportation von Frankfurt nach Kowno erinnert Angelika Rieber an die Opfer dieses Transportes, dem mehrere frühere Taunusbewohner zum Opfer fielen. Im Sommer 2011 hatte die Historikerin an einer vom Bildungswerk „Arbeit und Leben Hochtaunus“ organisierten Reise durch das Baltikum teilgenommen, die sie zu mehreren Gedenkstätten führte, die an die Deportationen und Massenerschießungen während des Zweiten Weltkrieges erinnern. Eine von ihnen ist das Fort IX in Kowno.
Fotos: Angelika Rieber
Nach Riga sollte der Transport gehen, der am 22. November 1941 von Frankfurt aus abfuhr. In Wirklichkeit traf der Deportationszug am 24.11.1941 in Kowno ein. Dort wurden alle Deportierten am folgenden Tag ermordet.
Alfred Grünebaum gehörte zur der Gruppe von Frankfurter Juden, die 1941 nach Kowno verschleppt wurden. Der Frankfurter lebte einige Jahre in Oberursel. 1924 heiratete er Liesel Dreydel, 1926 wurde die Tochter Anneliese geboren. In dieser Zeit lebte die Familie in der Lessingstraße in Oberursel, zog jedoch einige Jahre später wieder nach Frankfurt zurück. Der Ehe war kein Glück beschert. Sie wurde 1937 geschieden. Die 11-jährige Anneliese wurde im selben Jahr in die USA geschickt, die Mutter folgte ein Jahr später. Alfred Grünebaum blieb in Deutschland und wurde ebenso wie sein Bruder Arthur im November 1938 verhaftet und ins KZ Buchenwald gebracht, wo er am 3.2.39 wieder entlassen wurde. Seine geplante Auswanderung nach England scheiterte an den restriktiven Bestimmungen der Behörden, die den Aufbau einer neuen Existenz behinderten. So wurde sein Antrag, die Nähmaschinen seiner Firma mitzunehmen, abgelehnt. Möglicherweise blieb Alfred Grünebaum auch in Deutschland, weil er seine Eltern nicht alleine lassen wollte.
Zwei Tage vor dem Beginn der Deportationen am 19.10.1941, starb der Vater. Zur selben Zeit wurde ein generelles Auswanderungsverbot erlassen, so dass Alfred Grünebaum Deutschland nicht mehr verlassen konnte . Innerhalb eines Jahres wurden fast alle damals noch in Deutschland lebenden Juden „in den Osten“ verschleppt und ermordet. Nur wenige überlebten den Holocaust. Während der erste Deportationszug am 19.10.1941 Lodz ging, der zweite am 11.11.1941 nach Minsk, sollte der dritte Transport vom 22. November 1941, einem Freitag, nach Riga gebracht werden. Früh morgens am 22.11.1941 wurde Alfred Grünebaum von Gestapobeamten zur Frankfurter Großmarkthalle gebracht, von wo aus der Zug startete. Der Zug kam nie in Riga an, sondern wurde nach Konwno umgeleitet. Als Begründung wurde die Überfüllung des Ghettos in Riga genannt. Nach drei Tagen Fahrt kam der Zug in Kowno an.
Was nach der Ankunft in Kowno geschah, wird in dem Katalog der Ausstellung „Und keiner hat für uns Kaddisch gesagt…“ beschrieben. Sechs Kilometer mussten die Menschen, fast tausend, von dort aus durch die Stadt zum Fort IX laufen. Bei diesem Fort handelt es sich um eine ehemalige Festung aus dem Jahre 1883, die in der Zeit der lettischen Republik als Haftanstalt diente. Einen Monat vorher waren dort mehr als 10.000 litauische Juden erschlossen worden. Die Verschleppten aus Frankfurt verbrachten zunächst die Nacht in den Zellen der Festung. Am folgenden Tag, am 25.11.1941, zwangen die Bewacher die Menschen zunächst zum „Morgensport“ in der eiskalten Luft. Im Dauerlauf mussten sie später in bereits von russischen Kriegsgefangenen ausgehobenen Gruben außerhalb der Umfassungsmauer des Forts laufen. In den bewaldeten Hügeln versteckte Schützen eröffneten das Feuer aus Maschinengewehren. Keiner der Verschleppten aus Frankfurt konnte diesem Massaker des Einsatzkommandos 3 entkommen. Bis zum Sommer 1944 wurden mehr als 50 000 Juden in den Befestigungsanlagen von Kowno erschlossen.
Unter den Opfern sind neben Alfred Grünebaum mehrere Personen, die jahrelang in verschiedenen Taunusorten gelebt hatten, in Königstein, Bad Homburg und Wehrheim. Zusammen mit ihren drei in Königstein geborenen Söhnen wurde Fanny Steinberg im November 1941 nach Kowno deportiert. Ihr Sohn Helmut war damals 14 Jahre alt, sein Bruder Heinz 12 Jahre alt, Günther, der Jüngste wurde nur 7 Jahre alt. Noch im Juli 1941 war die Familie in Königstein in der Neugasse 1 gemeldet.
Der Vater, der Metzger Hugo Steinberg, wurde im November 1938 nach Buchenwald verschleppt. Er erinnert sich: Bei der Ankunft im Bahnhof Weimar mussten wir alle in Reih und Glied antreten. Leider stand ich in der ersten Reihe. Dann rief ein SS-Mann: ‚Kopf hoch‘, und schlug im selben Augenblick mit einem Gummiknüppel auf mich ein. Dabei wurde mir das Nasenbein gebrochen und die Vorderzähne ausgeschlagen.“ Nach einer Entlassung floh Hugo Steinberg nach England. Dort wurde er 1940 zusammen mit zahlreichen anderen deutschen Emigranten erneut verhaftet, nach Australien abgeschoben und dort in einem Lager interniert. Es gelang ihm nicht mehr seine Familie nachzuholen.
Hinweis: Am 27.01.2012 erschien eine gekürzte Fassung dieses Textes als Gastbeitrag unter dem Titel „Zum Todesschuss nach Kowno“ in der Frankfurter Rundschau, Regional, Bad Homburg.