Aber ein Heim ist kein Heim

Zum Gedenken an die Novemberpogrome 1938

10. November 2019, 17:30, Hospitalkirche Oberursel
Programm: Musik – Jerusalem Duo, Vortrag – Norbert Abels

Bereits um 17 Uhr findet eine kurze Gedenkveranstaltung am Denkmal statt.

Flyer Vorderseite

Das Jerusalem Duo versteht sich als eine neue Stimme in der Musikwelt, die die Grenzen der konventionellen Genres überschreitet.

Hila Ofek und Andre Tsirlin haben an der „Jerusalem Academy of Music & Dance“ studiert und wie meisten guten Dinge im Leben, ergab sich auch der erste Auftritt des Jerusalem Duo eher zufällig.

Hila Ofek war eingeladen, auf der Hochzeit eines Freundes mit einem Flötisten zu spielen, der aber absagen musste. Die spontane, zuerst halb im Scherz gemeinte Idee, dass Andre den Flötisten ersetzen könnte, wurde in die Tat umgesetzt. Und Aufführung war ein großer Erfolg. Eines der häufigsten Komplimente war, dass die Kombination der beiden Instrumente so natürlich und melodisch klingt und nichts vermissen lässt.

Seit ihrer gemeinsamen Premiere hat das Jerusalem Duo Konzerte auf zahlreichen Bühnen in Europa gegeben, darunter die Berliner Philharmonie, das Prinzregententheater in München, die Laeiszhalle in Hamburg und viele mehr.

Mit ihrem Auftritt vor Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 3. Oktober 2017 im Mainzer Dom anlässlich der offiziellen Feier des Tages der Deutschen Einheit eroberten sie die Herzen von Millionen von Fernsehzuschauern.

Norbert Abels ist ein Dramaturg, Publizist, Kulturwissenschaftler und Musiker und lebt in Oberursel

Er studierte Literatur- und Musikwissenschaft, Philosophie und Judaistik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Neben zahlreichen kulturkritischen und -historischen Aufsätzen und Essays publizierte er Monographien über Arthur Schnitzler, Franz Werfel und Benjamin Britten. Ab 1987 arbeitete er an verschiedenen Bühnen in Europa, den USA, Israel und Japan als dramaturgischer Partner von Regisseuren wie Ruth Berghaus, Calixto Bieito, Nicolas Brieger, Tankred Dorst, Adolf Dresen, Matthias und Thomas Langhoff, Christoph Marthaler, Peter Sellars, Herbert Wernicke und Robert Wilson. 1997 wurde er Leitender Dramaturg am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, Von 1998-2019 war Norbert Abels Chefdramaturg der Oper Frankfurt. Er unterrichtet an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, an den Schulen des Deutschen Buchhandels und der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main sowie als Professor an der Folkwang-Hochschule Essen. Seit 2006 ist Norbert Abels außerdem Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste.


Zum Gedenken an die Novemberpogrome 1938

 

Videomitschnitt von Dr. Christoph Müllerleile

Bericht von Annette Andernacht

Am Sonntag, den 10. November 2019, hat der Verein „Initiative Opferdenkmal“ zu einer Gedenkfeier direkt beim Denkmal aufgerufen. Anlass war das Gedenken an die Novemberpogrome 1938.

Weit über 100 Oberurseler Mitbürger sind gekommen um daran zu erinnern, dass die Gräueltaten der Nationalsozialisten nicht vergessen werden dürfen. Vertreter der Oberurseler Politik waren zahlreich vertreten, darunter Bürgermeister Hans-Georg Brum (SPD), Erster Stadtrat Christoph Fink (Grüne), Stadtkämmerer Thorsten Schorr (CDU), Stadtverordnetenvorsteher Gerd Krämer (CDU) und Bundestagsabgeordneter Dr. Stefan Ruppert (FDP). Außerdem kamen viele Magistratsmitglieder und Stadtverordnete der Stadt Oberursel.

Ganz besonders hat uns gefreut, dass Rabbiner Andrew Steiman und Tibi Aldema und auch Günter Röder, dessen Oma Bertha Röder in Auschwitz ermordet wurde, gekommen sind – ebenso Dieter Pagel und seine Schwester Gundi Potthas, deren Mutter in Hadamar umgebracht wurde.

Die Vorsitzende der Initiative Opferdenkmal, Annette Andernacht, begrüßte die zahlreich erschienenen Gäste. (Rede siehe Anhang). Danach richtete Bürgermeister Hans-Georg Brum sich an die um das Denkmal Versammelten. Rabbi Steiman (Video anschauen) und Tibi Aldema (Video anschauen) berührten mit ihren Gebeten, die sie in Deutsch und Hebräisch vortrugen. Abschließend stellten die Teilnehmer nach einer Schweigeminute ihre mitgebrachten Kerzen rund um das Denkmal.

Danach gingen alle in die Hospitalkirche, die bis in die Empore hinauf voll besetzt war. Eingeladen war das „Jerusalem Duo“, das mit Tenorsaxophon und Harfe die Anwesenden verzauberte – mal fröhlich, mal lustig, mal traurig, mal nachdenklich, mal zum Träumen und zum Mitsingen. In ihrem breiten Repertoire zeigten sie ganze Vielfalt der jiddischen Musik.

Professor Dr. Norbert Abels verdeutlichte in seinem Vortrag sehr einfühlsam und anschaulich den aufkommenden Antisemitismus und die daraus folgenden Gräueltaten bis in die heutige Zeit. (Redebeitrag siehe unten)

Jeder ging mit der Gewissheit nach Hause, die Geschichte kann und darf nicht vergessen werden!

 

Bericht von Dr. Christoph Müllerleile

Gut besuchte Gedenkfeier zur Pogromnacht von 1938

Mit einer von mehr als 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmern besuchten Feier am Oberurseler Opferdenkmal und einem hochkarätig besetzten Konzert in der benachbarten Hospitalkirche gedachte die Initiative Opferdenkmal am 10. November 2019 der Novemberpogromnacht von 1938.

Am Opferdenkmal sprachen die Vorsitzende Annette Andernacht, Bürgermeister Hans-Georg Brum und der Rabbiner Andrew Aryeh Steiman zum Tagesanlass. Steiman betete zusammen mit Tibi Aldema von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Hochtaunus für Frieden und Versöhnung.

Das anschließende Gedenkkonzert in der Hospitalkirche gestalteten das Jerusalem Duo mit Hila Ofek an der Harfe und Andrey Tsirlin am Saxophon musikalisch. Professor Norbert Abels, Dramaturg, Publizist, Kulturwissenschaftler und Musiker, hielt einen Vortrag zur Geschichte und zu den Gründen des Antisemitismus in Deutschland, wobei er die Rolle der Oberurseler Bürger während der nationalsozialistischen Zeit und die AfD-Gründung in Oberursel nicht aussparte.

 

Redebeitrag von Annette Andernacht
Vorsitzende der „Initiative für die Errichtung eines Denkmals zur Erinnerung an die Oberurseler Opfer des Nationalsozialismus e.V.“

An diesem Wochenende feiern wir den Fall der Mauer. Dass wir die Wiedervereinigung Deutschlands feiern können, sollte uns zugleich bewusst machen, welche geschichtlichen Ereignisse dazu geführt haben, dass Deutschland überhaupt geteilt wurde. Die Meilensteine hierzu waren die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933, die Pogrome von 1938 und die Auslösung des 2. Weltkriegs 1939. Der 9. November ist somit ein Tag mit doppelter Bedeutung. Im Jahre 1938 markiert der 9. November den Übergang von der Phase der Diskriminierung und Entrechtung der jüdischen Bevölkerung zum staatlich sanktionierten und organisierten Totschlag und Mord. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden überall in Deutschland Synagogen angezündet, Geschäfte und Wohnhäuser von Juden demoliert, Menschen geschlagen und ermordet. Die Bilanz des Pogroms: 800 Tote, Einsperrung von 30 000 Juden in sogenannter Schutzhaft, in der weitere 400 umkamen.

Auch hier in Oberursel wütete der faschistische Mob und auch hier haben wir ein erstes Opfer zu beklagen. Eugen Rothschild, dessen Geburts- und Sterbedaten Sie hier auf unserer Tafel finden, wurde am 9. November in Oberursel aus seiner Wohnung geprügelt, dann in „Schutzhaft“ genommen und in Buchenwald ins Lager gesperrt, wo er am 8. Dezember 1938 verstarb.

Wie mörderisch der Nationalsozialismus nicht nur in den besetzten Ländern sondern auch hier vor Ort wirkte belegen die vielen Namen von Opfern, die wir hier inzwischen belegen können. Sie sind, wenn man den Ausführungen eines führenden AfD-Funktionärs folgen möchte, sozusagen der örtliche Kollateralschaden eines Vogelschiss der Geschichte. Die Versuche, das Geschehene zu verschweigen, zu relativieren und zu beschönigen, sind keineswegs neu, werden aber heutzutage von den Nazis und ihren Wiedergängern immer ungenierter vorgetragen.

Lange Jahre der Nachkriegszeit gab es ein Bestreben, möglichst nicht zu viel und nicht konkret über die Verbrechen des Nationalsozialismus zu sprechen, so quasi als könne man ihn überwinden in dem man ihn vergisst. Einer meiner Lehrer hat einst gesagt:“ Geschichte ist da um aus ihr zu lernen.“ Es hat aber sehr lange gedauert, bis in Deutschland und hier in Oberursel Initiativen des Hinschauens und Gedenkens ergriffen wurden. Wie notwendig dies ist, nicht nur beim Blick in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft, zeigen die mörderischen Anschläge von Nazis in den letzten Jahren. Vom mörderischen Treiben des sogenannten NSU über den Mord an Walter Lübcke bis jüngst zum Anschlag auf die jüdische Gemeinde in Halle und die Ermordung zweier Menschen.

Wenn wir heute der Menschen gedenken, die vor 81 Jahren ermordet wurden, so schließen wir in das Gedenken alle mit ein, die in der Folge dieses Tabubruchs bis zum heutigen Tage Opfer des mörderischen Antisemitismus und der Menschenverachtung des Nationalsozialisten wurden.

 

Redebeitrag von Prof. Norbert Abels
Dramaturg, Publizist, Kulturwissenschaftler und Musiker

 

Ein Heim ist kein Heim
Gedenkrede zum 9.November in der Hospitalkirche von Oberursel

Wenn Juden über den Holocaust sprechen, sagen die Leute nie „damals“. Sie sagen „dort“. „Dort“ bedeutet, dass in diesem „dort“ – nicht nur in Deutschland, sondern im Menschsein überhaupt – die Dinge immer noch existieren,
David Grossmann

Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen!
Franz-Josef Strauß,1969 (Die Zeit)

Juden wurden besonders in deutschen Landen immer diskriminiert, geächtet, bestohlen und verfolgt. Wolfgang Hildesheimer formulierte 1964 ziemlich hart: „Zwei Drittel aller Deutschen sind Antisemiten. Sie waren es immer, und sie werden es immer bleiben.“ Wie auch immer man hierüber denken will, ein nicht geringer Wahrheitsgehalt dieser Schätzung ist kaum auszuschließen. Schon die Kreuzritter fielen über die alten, bereits im ersten nachchristlichen Jahrhundert gegründeten jüdischen Gemeinden her, um ihre Feldzüge zum Jerusalemer Grab des freilich jüdischen Erlösers zu finanzieren, um sich – dort angelangt – mit dem in der heiligen Stadt geraubten Gold wieder in die Heimat aufzumachen. Die lächerlichen, aber bei Todesstrafe vorgeschriebenen Judenhüte, auch die an der Brust zu tragenden blutroten Judenflecke waren Vorformen des gelben Sterns. Luther, der Christenmensch, verdächtigte die jüdischen Mitbürger des Ritualmords, der Schändung konsekrierter Hostien und der Brunnenvergiftung. Seine diesbezüglichen Spätschriften erlebten im Dritten Reich erneut hohe Auflagen. Unzufriedene Frankfurter Kleinbürger plünderten 1614 die Häuser der Judengasse am Wollgraben aus, erschlugen alle Widerstand Leistenden, trieben die Überlebenden aus der Freien Reichsstadt. Die Hep-Hep- Krawalle von 1819 gingen ebenfalls von Handwerkern, jetzt aber auch patriotischen Studenten aus, die jüdische Bürger bedrohten und misshandelten, die Synagogen, Geschäfte und Wohnungen demolierten. Ein grausames Vorspiel. Ein Vorspiel auch jenes schrecklichen Geschehnisses, das sich soeben in Halle ereignet hat und das ein sächsischer AfD-Landtagsabgeordnete als „Sachbeschädigung“ bezeichnete. „Was ist schlimmer, eine beschädigte Synagogentür oder zwei getötete Deutsche“- so fragte er.

Der Judenhass, der 1879 unter tatkräftiger Mitwirkung eines ehemaligen Paulskirchendeputierten biologistisch als Antisemitismus in ein Stadium gelangte, dem von nun an die Betroffenen nicht einmal mehr durch Konversion zu entrinnen vermochten, sah durch deren Integration die Rasseeigenschaften der Deutschen gefährdet. Eine tödliche, zur Zeit wieder in Ausbreitung begriffene Lehre; eine Lehre der Ausweglosigkeit auch für die Überassimilierten der wilhelminischen Epoche, die ihre Kinder zu guten Deutschen erziehen wollten , sie bisweilen etwa Siegmund und Sieglinde nannten und sich freiwillig an die vordersten Frontlinien des – so Arnold Zweig- ersten großen Krieges der weißen Männer meldeten. An Arnold Zweig schrieb Kurt Tucholsky aus dem schwedischen Exil Mitte Dezember 1935, nur kurz vor seinem Freitod: „Ich bin im Jahre 1911 ›aus dem Judentum ausgetreten‹ und ich weiß, dass man das gar nicht kann.“

Die Dialektik von politischer Revolte und irrationaler Ächtung des mutmaßlich Fremden geschah hierzulande schon früh. Die deutschen Burschenschaftler verteilten auf ihren Burgtreffen gerne antijüdische Hetz- und Hass-Schriften. Im Revolutionsjahr 1849 prognostizierte Franz Grillparzer ahnungsvoll die Zukunft in den Worten: »Der Weg der neuen Bildung geht von Humanität durch Nationalität zur Bestialität.« Und Heinrich Heine prägte den ebenso hellsichtigen und zu Recht oft zitierten Satz: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.” An anderer Stelle, aber in ebenso bestürzend zutreffender Antizipation: „Wenn ihr dann das Gepolter und Geklirr hört, hütet euch ihr Nachbarskinder, ihr Franzosen und mischt euch nicht in die Geschäfte, die wir zu Hause in Deutschland vollbringen. (…) Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist sehr gelenkig, und kommt langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wisst: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte“.

Schauen wir auf unsere eigene Region. Der Sammelort der ersten Transporte von Frankfurtern jüdischer Herkunft in die Konzentrationslager des Nazireichs, geschehen am Morgen des 10. November 1938, war die Festhalle. Unter der breiten Kuppel mit ihren goldfarbenen Weltkugeln pferchten die braunen Verbrecher die Menschen ein, nachdem man sie bereits bei ihrem von johlenden Gaffern instrumentierten Marsch durch die Frankfurter Innenstadt schwer misshandelt hatte. Reichs-Kristallnacht: so nennen Manche heute noch recht verharmlosend jene im ganzen Land durchgeführten und meist blutigen Pogrome, bei welchen auch die Oberurseler Bürger Eugen Rothschild, Friedrich Kahn und Henry Wolfskehl ums Leben kamen.

Hetzjagden vollzogen sich, die hernach zur ersten Deportation von nahezu 30 000 deutschen Bürgern und Bürgerinnen in die barbarischen KZs von Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen führten. Unter den ersten bei dieser Verhaftungswelle Misshandelten befand sich auch der Opernsänger Hans Erl, ein berühmter Bassist, dessen letzte Partie am Frankfurter Musiktheater einige Monate zuvor die des Gurnemanz in Richard Wagners Parsifal gewesen war. Eines deutschen Tonsetzers also, der oft seiner – wörtlich- „instinktmäßigen Abneigung“ gegen Juden und vor allem jüdische Kunstschaffende immer wieder Ausdruck verliehen hatte. Der Frankfurter Rabbiner Georg Salzberger, als Militärseelsorger Träger des Eisernen Kreuzes aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und nun gleichfalls Deportierter, erinnerte sich an ein kurioses Erlebnis: „Plötzlich lautlose Stille in dem großen Raum, und vom Balkon erscholl die Stimme eines Sängers. Er sang die Arie ›In diesen heil’ gen Hallen kennt man die Rache nicht‹. Ein SS-Gruppenführer hatte dem Sänger angeboten, sich „frei zu singen“. Erl konnte tatsächlich nach Hause gehen. Allerdings nur vorläufig. Am 11. Juni 1942 deportierte man den Sänger wahrscheinlich ins Vernichtungslager Majdanek, vielleicht auch in das nicht minder bestialische von Sobibor, wo er unmittelbar nach seiner Ankunft vergast wurde.

„Wir kommen nach Auschwitz. So Gott will, komme ich wieder. Wenn nicht, behaltet mich in gutem Gedenken“. Das schrieb im September 1943 die Oberurselerin Bertha Röder unmittelbar vor ihrem Sondertransport in das im besetzten Polen errichtete Massenvernichtungslager, wo sie bald schon umkam.

Schon beim Novemberpogrom wurden jüdische Friedhöfe geschändet, auch in unserer Stadt wurden Grabsteine umgestürzt, Wohnungen jüdischer Familien überfallen und verwüstet. Davon wusste man. Kaum zu glauben deshalb, dass die Leute in unserer Stadt, die damals rund 12 000 Einwohner hatte, später immer wieder berichteten, nichts davon mitbekommen haben, obgleich solche Aktionen unentwegt geschahen. Siebzig Menschen wurden hier Opfer der Säuberungen.

Alle in Oberursel wussten, dass hinter den drei Meter hohen Stacheldrahtzäunen des Gemeinschaftslagers der Klöckner-Humboldt-Deutz A.G.« , hinter welchen die zahlreichen, zumeist aus den sogenannten „Ostländern“ stammenden Gefangenen ihr mühsames Dasein fristeten, die grausamsten Dinge geschahen. Der langjährige Buchenwald Häftling Eugen Kogon, der in Oberursel sein 1946 epochales Werk Titel Der SS-Staat vollendete und 1987 in Falkenstein starb – er entging nur durch eine glückliche Fügung der bereits eingeleiteten Deportation nach Auschwitz- erzählte mir kurz vor seinem Tod, wie sich die Rollläden der Anwohner schlossen, wenn die Gestapo zur Verhaftungsaktion anrückte.

Unsere Stadt sah zu, als man Rosa Feinberg, Witwe des letzten jüdischen Gemeindevorstehers Abraham Feinberg,
und deren Schwestern am 28. August 1942 abholte und über den Marktplatz und die Weidengasse auf einem Leiterwagen zum Bahnhof überführte. Immer wieder, so wurde berichtet, hätten sich die Frauen umgeschaut und ungläubig mit dem Kopf geschüttelt. Auch die Bombardements von Oberursel zur gleichen Zeit vermochten es nicht, die Leute zum Nachdenken zu bringen.

Der Oberurseler Autorin und Historikerin Angelika Rieber sowie dem Autor und Juristen Eberhard Laeuen ist es mit ihrer unermüdlichen Recherchearbeit gelungen, das, was in Oberursel während der Nazizeit den jüdischen Bürgern und auch den Euthanasieopfern angetan wurde, dem vielfach so gut gehütetem Dunkel der Vergangenheit zu entreißen. In den drei Phasen der Verfolgung – die der Verhöhnung und des Ausschlusses aus dem öffentlichen Leben, die der Reichspogromnacht am 9. November 1938 mit dem nahezu vollständigen Entzug der Lebensgrundlagen und schließlich, der nach der Wannsee-Konferenz vollzogenen sogenannten Endlösung, der systematischen Deportation und industriellen Ermordung der europäischen Juden –geschahen auch in unserer Stadt mit zunehmender Brutalität die schlimmsten Dinge.

Die Dinge, nunmehr von demokratisch gewählten Volksvertretern als historischen „Vogelschiss“, an anderer Stelle als „Fliegenschiss“ der deutschen Geschichte bezeichnet, erleben, von der Allgewalt des digitalen Kosmos nachgerade universalisiert, erneut eine Regressionen in jene ressentimentgeladenen Stereotypen der Ausgrenzung, von denen einst Heinrich Heine sprach. Darunter die angemahnte „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad, das am Kyffhäuser-Denkmal mit Blasmusik mit einem Fahnenmarsch der wiederauferstandenen völkischen Jugend grölend reklamierte Recht, „stolz auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen zu sein“. Man erinnere sich an den geschichtlichen Kontext: Der von Genoziden begleitete Imperialismus des deutschen Kaiserreichs unter Wilhelm II. – darunter der Völkermord an den Herero und Nama (1904-1908)- ornamentierte sich im Aufbau dieses Denkmals, welches nicht nur den von Heine verspotteten Friedrich Barbarossa zeigt, sondern auch in einem Reiterstandbild Wilhelm I., den ersten Kaiser des Hohenzollernreichs, zum glorifizierten Erben des Staufer avancieren ließ.

Unsere inzwischen mit weit über 40 000 Einwohnern stark angewachsene Stadt erlebte im Februar 2013 die Gründung der AFD. Sie fand statt in der Christuskirche, benannt mithin nach dem jüdischen Rabbi aus Nazareth. Unmittelbar darauf tagte man bereits in der überfüllten Stadthalle. Damals dachte wohl noch keiner der ökonomiepolitisch ausgerichteten Gründungsväter der Partei an deren inzwischen allzu oft zu Hasspredigern mutierten Politiker, die von Schuldkult schwadronieren oder das Berliner Holocaust-Mahnmal als „ein Denkmal der Schande“, gepflanzt in „das Herz seiner Hauptstadt“, bezeichnen. Freilich: bereits im Gründungsjahr sprach der damalige Schatzmeister der Partei von internationalen Mafiosi, darunter die Rothschilds, die unsere Erde „in einem öko-faschistischen Gefängnisplaneten versklaven“ wollen. Und nur ein Jahr darauf forderte der AfD-Chef von Sachsen-Anhalt die Ausweisung Michel Friedmans. Angela Merkel konnte ebenfalls in Sachsen-Anhalt ungestraft von einem Politiker der Partei als zionistische Agentin bezeichnet werden. Martin Schulz fand sich auf dem Facebook-Account der Partei im Stil des nationalsozialistischen Stürmers mit verlängerter Nase karikiert. Die Leugnung der Schoa kann nicht länger mehr als Einzelfall inventarisiert werden. Zyklon B habe „zum Schutze des Lebens“ gedient, äußerte ein norddeutscher Lokalpolitiker. 55 % der AfD-Anhänger glauben laut einer Allensbach-Umfrage, Juden hätten auf der Welt zu viel Einfluss. Es gibt eben nichts Neues unter der Sonne, so steht es geschrieben im ersten Kapitel des tiefgründigen jüdischen Buches Kohelet.

Was folgt daraus für die Betroffenen, die wieder Angst haben müssen vor dem, was ihren Kindern und ihnen selbst geschehen kann, in der Schule, in der Gemeinde, im Gebetshaus, im Restaurant?

Weit mehr als eineinhalb Jahrhunderte ist es her, das der Frankfurter Literat Ludwig Börne folgende Worte schrieb: „Tausend Male habe ich es erfahren, und doch bleibt es mir ewig neu. Die einen werfen mir vor, dass ich ein Jude sei; die andern verzeihen mir es; der dritte lobt mich gar dafür; aber alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus.“

Ja, dieser Kreis ist wieder virulent geworden und hat sich mit Hilfe der so fatalen sozialen Netzwerke unmäßig, und keineswegs nur in Deutschland, ausgebreitet. Von Sicherheit kann längst keine Rede mehr sein. Die Erfahrung Hilde Domins, mit Else Lasker Schüler, Nelly Sachs und Rose Ausländer eine der großen deutschjüdischen Lyrikerinnen des unseligen 20. Jahrhunderts, gilt immer noch. Es ist die Erfahrung des Heimatverlusts, das Misstrauen gegen jede Form von Sicherheitsgefühl, die Angst vor der Wiederkehr des Grauens. In ihrem Gedicht Mit leichtem Gepäck schreibt sie:

Gewöhn dich nicht.
Du darfst dich nicht gewöhnen.
Eine Rose ist eine Rose.
Aber ein Heim
ist kein Heim.

Sag dem Schoßhund Gegenstand ab
der dich anwedelt
aus den Schaufenstern.
Er irrt. Du
riechst nicht nach Bleiben.

Ein Löffel ist besser als zwei.
Häng ihn dir um den Hals,
du darfst einen haben,
denn mit der Hand
schöpft sich das Heiße zu schwer.

Es liefe der Zucker dir durch die Finger,
wie der Trost,
wie der Wunsch,
an dem Tag
da er dein wird.

Du darfst einen Löffel haben,
eine Rose,
vielleicht ein Herz
und, vielleicht,
ein Grab.

Fotos von Uwe Seemann

 

Pressebericht in der Oberurseler Woche

Oberurseler Woche, 14.11.2019, Seite 17

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